Völklingen

Der Deutsche Film – 1895 bis Heute

Szenenbild aus: "Lola rennt", Deutschland 1998; Regie: Tom Tykwer. Abgebildete Person: Franka Potente. Fotoquelle: © Weltkulturerbe Völklinger Hütte
Halb Bilanz, halb Leistungsschau – die Völklinger Hütte und die Deutsche Kinemathek würdigen 120 Filme aus 128 Jahren. Eine opulente Präsentation mit teils eigenwilligen Akzenten macht deutlich: Anfangs von internationaler Strahlkraft, wird die nationale Kino-Produktion im Lauf der Zeit immer provinzieller.

Die Geschichte des deutschen Films zeugt von seiner fortschreitenden Provinzialisierung – dieser Eindruck drängt sich beim Rundgang durch die Gebläse- und Verteilerhalle der Völklinger Hütte auf. Wobei dahingestellt bleiben mag, ob das einstige Stahlwerk mit seinen massigen Kesseln, Rohren und anderen Einbauten aus der erdenschweren Frühindustrialisierung der optimale Ausstellungsort ist für das lichte und immaterielle Medium Film, das sie seit jeher transzendiert.

 

Info

 

Der Deutsche Film – 1895 bis Heute

 

15.10.2023 - 15.09.2024

 

täglich 10 bis 19 Uhr

im Weltkulturerbe Völklinger Hütte, Europäisches Zentrum für Kunst und Industriekultur, Rathausstraße 75 – 79, Völklingen

 

Katalog 54 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Doch sie sind gewiss besser geeignet als die sterilen white-cube-Räume in normalen Filmmuseen. Und die Macher schöpfen ihre Möglichkeiten voll aus: Riesige Filmplakat-Reproduktionen hängen von der Decke. Auf enormen Projektionsflächen, fast so groß wie Kino-Leinwände, laufen Filmausschnitte – oder auf Monitoren, die in Treppen und Hohlräume eingelassen sind. Dazu kommen zahllose Schaukästen und Vitrinen. Überall leuchtet, flimmert und funkelt es in den ansonsten abgedunkelten Hallen: Reizüberflutung als Konzept.

 

Defilée der Filmgrößen

 

Was eine ausgefeilte Gliederung in zehn Abschnitte halbwegs ausgleicht. Rund 120 mehr oder weniger einflussreiche Filme werden ausführlich vorgestellt, außerdem ein gutes Dutzend bedeutender Filmschaffender: Schauspielstars wie Marlene Dietrich oder Hildegard Knef, Drehbuchautoren wie Wolfgang Kohlhaase, Produzenten wie Artur „Atze“ Brauner, aber auch kaum bekannte Filmarchitekten wie Erich Kettelhut und Kostümbildnerinnen wie Aenne Willkomm: Beide schufen 1927 die visionäre Ausstattung von „Metropolis“.

Trailer zur Ausstellung; © Weltkulturerbe Völklinger Hütte


 

Ein Kanon, der keiner sein soll

 

Die Auswahl der Filme solle keinen Kanon festlegen, beteuert Kinemathek-Direktor Rainer Rother. Selbstredend tut sie es doch: Indem sie bislang weniger beachtete Werke wegen vermeintlicher Relevanz auf eine Ebene mit anerkannten Klassikern hebt und dadurch aufwertet, wie auch jede Filmpreis-Nominierung. Dabei setzt sie durchaus eigenwillige Akzente, etwa bei der ausgiebigen Berücksichtigung von Filmen mit queeren Sujets.

 

Dass „Anders als die Anderen“ (1919) als erster Film über Homosexualität überhaupt und „Mädchen in Uniform“ (1931), der erstmals lesbische Liebe thematisierte, ebenso zu den Top-120 zählen wie Rosa von Praunheims skandalumwitterte Abrechnung „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971, dürfte unstrittig sein.

 

Spannende Entdeckungen

 

Dass aber auch das homophobe Machwerk „Anders als Du und Ich (§175)“ (1957) des NS-Hetzfilm-Regisseurs Veit Harlan und „Große Freiheit“ (2021) über Strafverfolgung von Schwulen vor 1969 gleichfalls dazu zu rechnen sind, befremdet genauso wie ein Nachbau des kompletten Filmstudios für ein 1958 gedrehtes „Mädchen in Uniform“-Remake, in dem Romy Schneider und Lilli Palmer sich küssen. Wie aufregend! Solches Bedienen von special-interest-Minderheiten ähnelt dem Berlinale-Programm, für das die Kinemathek alljährlich die Retrospektive ausrichtet.

 

Das Gros der Filme dürfte natürlich den meisten Cinephilen bekannt sein. Nichtsdestoweniger lassen sich spannende Entdeckungen machen: etwa „Nerven“ von 1919. Darin übersetzte Regisseur Robert Reinert die Auflösungserscheinungen des zerfallenden Kaiserreichs in einen fiebrig-assoziativen Bilderbogen. Sein expressionistisches Meisterwerk galt lange als verschollen und wurde 2009 rekonstruiert. Oder „Unter den Brücken“: In der Endphase des Zweiten Weltkriegs gedreht, kam der poetisch-realistische, betont unideologische Film von Helmut Käutner erst 1950 in die Kinos.

 

Anfänge mit weltweiter Ausstrahlung

 

Da hatte der deutsche Film seine innovativste Phase schon lange hinter sich. Seine größte internationale Strahlkraft besaß er in der Anfangszeit. Die Dänin Asta Nielsen wurde mit deutschen Produktionen zum ersten Kino-Weltstar; ihre Stummfilme waren von Mexiko bis Indonesien zu sehen. Expressionistische Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder „Von Morgens bis Mitternachts“ (beide 1920) verknüpften erstmals bildende Kunst mit dem Kino; diese stilbildende Fusion hallt bis heute nach.

 

Mit „Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens“ erfand Friedrich Wilhelm Murnau 1922 den Horrorfilm. Walter Ruttmann setzte in „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ durch furiose Montage neue Standards für Dokumentarfilme. Ganz zu schweigen von „Metropolis“: Fritz Langs delirierende Ausstattungsorgie, wiewohl anfangs ein Flop, definierte für kommende Jahrzehnte die kollektive Vorstellung von Science-Fiction- und Fantasy-Filmen.

 

Wegweisende Propagandafilme

 

Auch technische Neuerungen kamen aus Deutschland. Arnold Fanck ließ für seine Bergfilme wie „Der weiße Rausch. Neue Wunder des Schneeschuhs“ (1931) die Kameras direkt auf Skibretter der Läufer montieren – derartige Action-Bilder finden sich in jeder heutigen Winter- oder Rennsport-Reportage. Seine Lieblings-Schauspielerin war übrigens Leni Riefenstahl, die in der NS-Zeit ins Regiefach wechselte. Ihre Propagandafilme über Reichsparteitage oder die Olympiade 1936, so ideologiegesättigt sie waren, prägten maßgeblich die Selbstdarstellung totalitärer Regime.

 

Versteht sich: Die Nazi-Diktatur markierte den großen Bruch auch im Kino. Rund 2000 jüdische Filmschaffende emigrierten und nahmen ihren Esprit mit nach Hollywood; etliche andere wurden mit Berufsverbot belegt. Dennoch waren es nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Filme wie „Ehe im Schatten“ (1947) in Ost- und „Morituri“ (1948) in Westdeutschland, die erstmals das Grauen von NS-Verfolgung und Shoa auf der Leinwand zeigten – wofür das Publikum noch kaum bereit war.

 

Ausland als deutsches Nischen-Thema

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Großes Kino – Filmplakate aller Zeiten"- im Kulturforum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Inszeniert – Deutsche Geschichte im Spielfilm" – aufwändiger Historienfilm-Überblick in Bonn + Leipzig

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Kino der Moderne: Film in der Weimarer Republik" - in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

 

und hier eine Besprechung des Films "Von Caligari zu Hitler – Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen" – gelungener Essayfilm über die Stummfilm-Ära der Weimarer Republik von Rüdiger Suchsland.

 

Auch der „Neue Deutsche Film“ brachte weltläufige Perspektiven hervor. Werner Herzog schuf mit Klaus Kinski Werke wie „Fitzcarraldo“ (1982) über den culture clash zwischen Europäern und der übrigen Welt. Volker Schlöndorff drehte im Libanon („Die Fälschung“, 1981) und in Kasachstan („Ulzhan“, 2007). Selbst der rastlos deutsche Verhältnisse durchleuchtende Rainer Werner Fassbinder griff schon 1974 in „Angst essen Seele auf“ ein Problem auf, das seither nicht geringer geworden ist: Xenophobie, am Beispiel der Ehe einer Deutschen mit einem Marokkaner. Nicht zufällig ist der Filmtitel sprichwörtlich geworden.

 

Vorbei: Spätestens seit der Jahrtausendwende beackern deutsche Regisseure vorzugsweise heimische Gefilde – was einer der Gründe sein dürfte, warum sie in der Fremde kaum Resonanz finden. Ausland und Ausländer gelten allenfalls als Nischen-Themen für migrantische Filmemacher oder TV-Produktionen. Der letzte erfolgreiche deutsche Kinofilm, der in exotischen Gefilden spielt, nämlich in Kenia, war „Nirgendwo in Afrika“ (2001) von Carole Link – Oscar-prämiert, aber von heimischen Kritikern als zu sentimental abgetan.

 

Zu populär für diese Ausstellung

 

Wie sehr Produzenten und Zuschauer auf nationale Nabelschau abonniert sind, zeigt das Beispiel von „Zwischen Welten“ (2014). Darin beleuchtet Regisseurin Feo Aladağ die Dilemmata des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan – einem epochalen Einschnitt in der deutschen Außenpolitik. Mit Ronald Zehrfeld in der Hauptrolle prominent besetzt und packend inszeniert, erhielt der Film zahlreiche Preise – und scheiterte an der Kinokasse.

 

Wobei Ausnahmen die Regel bestätigen: Die Komödie „Willkommen bei den Hartmanns“, die 2016 geistreich und satirisch die Folgen der Flüchtlingskrise aufgriff, lockte vier Millionen Besucher in die Kinos. Der Kassenschlager von Simon Verhoeven kommt jedoch in dieser Ausstellung nicht vor: Er war den Kuratoren wohl zu leichtgewichtig.