Das einsame Haus im Wald ist seit Grimms Märchen eine erprobte Stätte für den Nervenkitzel. Drinnen geht es nicht mit rechten Dingen zu, draußen lauern Gefahren aller Art, und vor allem nachts tut die Fantasie ihr Übriges. Da knurrt und raschelt irgendetwas im Unterholz oder jault unheilschwanger in der Ferne. All dies sind bewährte Bausteine des Horror-Genres, die unzählige Male in verschiedenen Grausamkeitsstufen variiert worden sind. In jüngster Zeit gerieten im Wald oft arglose Wandertouristen in die Fänge sadistische Hinterwäldler.
Info
Never let go – Lass niemals los
Regie: Alexandre Aja,
101 Min., USA 2024;
mit: Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins
Ausflüge am Sicherungsseil
Tagsüber gehen sie mit ihrer Mutter (Halle Berry) auf Nahrungssuche. Von ihr wissen sie, dass es früher anders war. Nun aber regiere das Böse in der Welt; es habe alle anderen Menschen infiziert und es auch auf sie abgesehen, versichert sie ihnen: Nur innerhalb ihrer altertümlichen Blockhütte seien sie davor sicher. Wenn sie zu dritt das Haus verlassen, dann nur angebunden an lange Seilen, die fest mit dem Haus verbunden sind. Doch irgendwann erwachen in Nolan Zweifel, ob die von „Momma“ erzählten Geschichten der Wahrheit entsprechen.
Offizieller Filmtrailer
Existiert das Böse nur in Mommas Kopf?
Indem er ihre Warnungen ignoriert, setzt er eine Kette von Ereignissen in Gang, die das Band durchtrennen, das die drei miteinander verbindet. Der doppeldeutige Titel verrät subtil, dass es sich hier um ein gut konstruiertes Gedankenspiel handelt. Es geht um eine Mutter, die ihre Kinder von der Welt abschottet und sie buchstäblich ans Haus und somit an sich selbst bindet. Was das Böse sein soll, das da draußen lauert, weiß nur Momma allein.
Zu Beginn des Films schleicht sie sich nachts auf die Veranda. Das Geräusch, das sie geweckt hat, stammt von einem zombieartigen Wesen, das vor dem Haus lauert, aber schemenhaft bleibt. Im Laufe der Geschichte werden immer wieder Menschen auftauchen, deren Gesichter völlig normal aussehen, ihr selbst aber abscheulich fratzenhaft erscheinen. Dies und einige Rückblenden lassen Zweifel aufkommen, ob das Böse da draußen nicht nur in Mommas möglicherweise psychotischer Phantasie existiert.
Fragen nach der Welt da draußen
So entsteht eine leichte Skepsis gegenüber allem, was gezeigt wird. Das macht die Erzählung vielschichtig und auch für Menschen mit wenig Affinität zum Horror-Genre interessant. Visuell hat das spannend inszenierte Dreier-Kammerspiel viel zu bieten, selbst wenn es sich größtenteils auf engem Raum abspielt. Die kraftvollen Bilder vom nordamerikanischen Wald lassen diesen fast mythisch erscheinen, und im Holzhaus gibt es jede Menge Winkel und Details, die auch etwas über Mommas Leben vor der Waldeinsamkeit erzählen.
So finden sich unter den vielen herumliegenden Büchern die Märchen der Gebrüder Grimm; die ebenfalls allgegenwärtigen Schnitzereien scheinen rituelle Bedeutung haben. Als die Neugier der Jungs auf die frühere Welt mal wieder zu stark wird, holt Momma alte Polaroidfotos aus ihrer Jugend hervor. Doch dadurch entstehen beim nachdenklichen Nolan nur noch mehr Fragen – der Nährboden für den bevorstehenden Konflikt.
Eskalation und Abnabelung
Hintergrund
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und hier einen Bericht über den Film "Captain Fantastic" – gelungene Tragikomödie über eine in freier Natur lebende Dropout-Familie von Matt Ross mit Viggo Mortensen
und hier einen Beitrag über den Film "Cloud Atlas" – spektakulär verschachteltes SciFi-Historien-Fantasy-Epos von Tom Tykwer, Lana + Andy Wachowski mit Halle Berry.
Wie jeder gute Horrorfilm weist auch dieser mehrere Ebenen auf: Vordergründig erzählt er von der Abschottung gegenüber einer feindlichen Welt und einer zu engen Mutter-Kind-Bindung. Unterschwellig thematisiert er Traumata und religiösen Fanatismus: Wie sich herausstellt, war Mommas Vater ein radikaler Prediger und neigte zu häuslicher Gewalt. Drittens spielt er kritisch auf diverse in den USA existierende, autark lebende Gruppen mit merkwürdiger Ideologie an.
Listiger Twist am Ende
Daneben beherrscht Aja sehr gut das Changieren zwischen Realität und Einbildung. Im Grunde findet der Horror in „Never let go – Lass niemals los“ im Kopf statt, nur ist er hier auch für das Publikum sichtbar. Das Finale dagegen bietet einen den Genre-Konventionen widersprechenden, augenzwinkernden Twist. Doch ständig trügt der Schein in diesem Film, und so war auch dieses Augenzwinkern vielleicht nur Einbildung.