Halle Berry

Never let go – Lass niemals los

Momma (Halle Berry) läuft bewaffnet durch den Wald. Photo Credit: Liane Hentscher. Fotoquelle: LEONINE Studios
(Kinostart: 26.9.) Wenn Mutter zu sehr klammert: Horror-Spezialist Alexandre Aja inszeniert einen Psychothriller, in dem eine Hütte im Wald als Zufluchtsort dient – wie so oft. Doch der Schein trügt in diesem raffinierten Kammerspiel mit mehreren Ebenen, das nicht nur Grusel-Fans zu beeindrucken vermag.

Das einsame Haus im Wald ist seit Grimms Märchen eine erprobte Stätte für den Nervenkitzel. Drinnen geht es nicht mit rechten Dingen zu, draußen lauern Gefahren aller Art, und vor allem nachts tut die Fantasie ihr Übriges. Da knurrt und raschelt irgendetwas im Unterholz oder jault unheilschwanger in der Ferne. All dies sind bewährte Bausteine des Horror-Genres, die unzählige Male in verschiedenen Grausamkeitsstufen variiert worden sind. In jüngster Zeit gerieten im Wald oft arglose Wandertouristen in die Fänge sadistische Hinterwäldler.  

 

Info

 

Never let go – Lass niemals los

 

Regie: Alexandre Aja,

101 Min., USA 2024;

mit: Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins

 

Website zum Film

 

Der französische Horror-Spezialist Alexandre Aja („The Hills Have Eyes – Hügel der blutigen Augen“, 2006) dreht dieses Motiv um. In „Never let go – Lass niemals los“ wird die einsame Hütte zum Zufluchtsort. Innen herrscht schräge Heimeligkeit, während draußen die Gefahren lauern. Für die zehnjährigen Zwillinge Samuel (Anthony B. Jenkins) und Nolan (Percy Daggs IV) ist das vertraute Normalität. Sie leben seit ihrer Geburt im Wald und kennen nichts anderes als die Abgeschiedenheit ihres Blockhauses inmitten einer grünen Wildnis mit bemoosten Bäumen, die nachts bedrohlich knacken.

 

Ausflüge am Sicherungsseil

 

Tagsüber gehen sie mit ihrer Mutter (Halle Berry) auf Nahrungssuche. Von ihr wissen sie, dass es früher anders war. Nun aber regiere das Böse in der Welt; es habe alle anderen Menschen infiziert und es auch auf sie abgesehen, versichert sie ihnen: Nur innerhalb ihrer altertümlichen Blockhütte seien sie davor sicher. Wenn sie zu dritt das Haus verlassen, dann nur angebunden an lange Seilen, die fest mit dem Haus verbunden sind. Doch irgendwann erwachen in Nolan Zweifel, ob die von „Momma“ erzählten Geschichten der Wahrheit entsprechen.

Offizieller Filmtrailer


 

Existiert das Böse nur in Mommas Kopf?

 

Indem er ihre Warnungen ignoriert, setzt er eine Kette von Ereignissen in Gang, die das Band durchtrennen, das die drei miteinander verbindet. Der doppeldeutige Titel verrät subtil, dass es sich hier um ein gut konstruiertes Gedankenspiel handelt. Es geht um eine Mutter, die ihre Kinder von der Welt abschottet und sie buchstäblich ans Haus und somit an sich selbst bindet. Was das Böse sein soll, das da draußen lauert, weiß nur Momma allein.

 

Zu Beginn des Films schleicht sie sich nachts auf die Veranda. Das Geräusch, das sie geweckt hat, stammt von einem zombieartigen Wesen, das vor dem Haus lauert, aber schemenhaft bleibt. Im Laufe der Geschichte werden immer wieder Menschen auftauchen, deren Gesichter völlig normal aussehen, ihr selbst aber abscheulich fratzenhaft erscheinen. Dies und einige Rückblenden lassen Zweifel aufkommen, ob das Böse da draußen nicht nur in Mommas möglicherweise psychotischer Phantasie existiert.

 

Fragen nach der Welt da draußen

 

So entsteht eine leichte Skepsis gegenüber allem, was gezeigt wird. Das macht die Erzählung vielschichtig und auch für Menschen mit wenig Affinität zum Horror-Genre interessant. Visuell hat das spannend inszenierte Dreier-Kammerspiel viel zu bieten, selbst wenn es sich größtenteils auf engem Raum abspielt. Die kraftvollen Bilder vom nordamerikanischen Wald lassen diesen fast mythisch erscheinen, und im Holzhaus gibt es jede Menge Winkel und Details, die auch etwas über Mommas Leben vor der Waldeinsamkeit erzählen.

 

So finden sich unter den vielen herumliegenden Büchern die Märchen der Gebrüder Grimm; die ebenfalls allgegenwärtigen Schnitzereien scheinen rituelle Bedeutung haben. Als die Neugier der Jungs auf die frühere Welt mal wieder zu stark wird, holt Momma alte Polaroidfotos aus ihrer Jugend hervor. Doch dadurch entstehen beim nachdenklichen Nolan nur noch mehr Fragen – der Nährboden für den bevorstehenden Konflikt.

 

Eskalation und Abnabelung

 

Hintergrund

 

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und hier einen Beitrag über den Film "Cloud Atlas" – spektakulär verschachteltes SciFi-Historien-Fantasy-Epos von Tom Tykwer, Lana + Andy Wachowski mit Halle Berry.

 

Sein Bruder ist genügsamer. Samuel ist ein braver Sohn, der einfach nur geliebt werden will und dafür alles tut. Aus dieser klassischen Geschwister-Konstellation entwickelt sich dann auch das eigentliche Drama. Die überfürsorgliche Mutter bleibt dabei auf der Strecke, und die Jungen gehen hinaus in die böse Welt. Der Prozess der Abnabelung wird so überraschend wie eindrücklich inszeniert, und vor allem der Moment der Eskalation bleibt länger im Gedächtnis haften.

 

Wie jeder gute Horrorfilm weist auch dieser mehrere Ebenen auf: Vordergründig erzählt er von der Abschottung gegenüber einer feindlichen Welt und einer zu engen Mutter-Kind-Bindung. Unterschwellig thematisiert er Traumata und religiösen Fanatismus: Wie sich herausstellt, war Mommas Vater ein radikaler Prediger und neigte zu häuslicher Gewalt. Drittens spielt er kritisch auf diverse in den USA existierende, autark lebende Gruppen mit merkwürdiger Ideologie an.

 

Listiger Twist am Ende

 

Daneben beherrscht Aja sehr gut das Changieren zwischen Realität und Einbildung. Im Grunde findet der Horror in „Never let go – Lass niemals los“ im Kopf statt, nur ist er hier auch für das Publikum sichtbar. Das Finale dagegen bietet einen den Genre-Konventionen widersprechenden, augenzwinkernden Twist. Doch ständig trügt der Schein in diesem Film, und so war auch dieses Augenzwinkern vielleicht nur Einbildung.