
„Flackere auf wie eine Flamme und wirf große Schatten, in denen ich mich bewegen kann. Lass alles mit dir geschehen: Schönheit und Schrecken. Geh einfach weiter. Kein Gefühl ist endgültig.“ Diese Zeilen aus Rainer Maria Rilkes Gedicht „Geh an die Grenzen deiner Sehnsucht“ klingen wie eine poetische Kurzbeschreibung von „Parthenope“, dem neuen Film von Regisseur Paolo Sorrentino. Wer solche Poesie mag, der dürfte auch die des Filmes zu schätzen wissen. Sie ist die größte Stärke, aber auch die größte Schwäche des Films.
Info
Parthenope
Regei: Paolo Sorrentino,
136 Min., Italien/ Frankreich 2024;
mit: Celeste Dalla Porta, Gary Oldman, Stefania Sandrelli
Weitere Informationen zum Film
Inzestuöses Dreiecksverhältnis
Parthenopes Schönheit und Schlagfertigkeit ziehen die Männer unwiderstehlich an. Ihr Name entspringt der antiken Mythologie: Die gleichnamige Sirene lockte mit ihrem Gesang Bewunderer ins Verderben. Dagegen gliedert sich der poetische Fluss des Films in zahlreiche, nur lose verbundene Episoden: Mit ihrem Bruder Raimondo (Daniele Rienzo) und Sandrino (Dario Aito), dem Sohn einer Hausangestellten, hat Parthenope ein verstörender Dreiecksverhältnis am Rande des Inzests – als sie sich Sandrino hingibt, begeht Raimondo Selbstmord.
Offizieller Filmtrailer
Diven raten von Schauspiel-Laufbahn ab
Auch später bleibt ihr Liebesleben kompliziert und problematisch. Während ihrer Affäre mit dem Mafioso Roberto wird sie Zeuge eines Camorra-Rituals, bei dem eine Frau vor aller Augen ein Kind empfängt, um die Fehde zwischen beiden Clans zu beenden. Als sie von Roberto schwanger wird, lässt sie den Embryo jedoch abtreiben. Und das eindeutige Angebot eines zynischen Kardinals (Peppe Lanzetta) in der Kathedrale von Neapel schlägt Parthenope souverän aus.
Stattdessen spielt sie mit dem Gedanken, eine Karriere als Schauspielerin einzuschlagen. Bis ihr zwei frühere Filmdiven davon abraten: Flora Malva (Isabella Ferrari) versteckt nach missglückten Schönheits-Operationen ihr Antlitz hinter Masken; sie ist zu Einsamkeit in Selbstisolation verurteilt. Dagegen zieht Greta Cool (Luisa Ranieri) gegen Neapel und seine nichtsnutzigen Bewohner vom Leder; sie brächten vor lauter Hochmut und Willensschwäche nie etwas Gutes zustande.
Voyeur-Zuschauer bei Flirt mit Kamera
Also orientiert sich Parthenope um. Anstelle von Liebes-Chaos oder Kollateralschäden ihrer Schönheit widmet sie sich dem Studium der Anthropologie und strebt eine Hochschul-Laufbahn an. Mit Erfolg, dank ihres Professors: Marotta (Silvio Orlando) nimmt sie als Mensch ernst und behandelt sie als unabhängigen Geist auf Augenhöhe – zu einer Zeit, in der es für Frauen häufig nicht leicht war, sich in der akademischen Sphäre Achtung zu verschaffen.
Was von der Bildsprache scheinbar konterkariert wird: Paolo Sorrentino, der für seine Rom-Elegie „La Grande Bellezza“ 2014 den Auslands-Oscar erhielt, rückt seine Protagonistin immer wieder hyper-erotisierend ins Zentrum, lässt sie verführerisch mit der Kamera flirten und macht den Zuschauer zum Voyeur. Etliche Szenen wirken, als seinen sie Werbespots für Luxus-Produkte der Reichen und Schönen. Ob der Film in solchen Passagen begehrliche Blicke affirmativ oder ironisch-kritisch inszeniert, bleibt uneindeutig.
Überstilisierung lässt Bodenhaftung verlieren
Neben seiner Heldin spielt Neapel die zweite Hauptrolle – Sorrentino ist gebürtiger Neapolitaner. In diesem Film beschwört er noch einmal das einzigartige Flair einer Stadt, die es so nicht mehr gibt: vom Elend der bassi genannten, feuchten und lichtlosen Erdgeschoss-Wohnungen in der Innenstadt über die sozialen Revolten der 1970er Jahre bis zu paradiesischen Ausblicken auf die Steilküsten der Region, die immer mehr zersiedelt werden.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Loro – Die Verführten" – monumentales Biopic über Silvio Berlusconi von Paolo Sorrentino
und hier eine Besprechung des Films "Ewige Jugend" – wunderbare Tragikomödie übers Altern von Paolo Sorrentino
und hier einen Beitrag über den Film "La Grande Bellezza" – herrliche üppige Rom-Hommage + Dekadenz-Kritik von Paolo Sorrentino, prämiert mit dem Auslands-Oscar 2014
und hier einen Bericht über den Film "Nostalgia" – eindringliches Neapel-Porträt von Mario Martone.
Wilder Mix als Geschmackssache
Parthenope erscheint weniger als Mensch denn als mythisches Wesen, das unnahbar über den Dingen schwebt. Diese aufreizende Künstlichkeit ermüdet auf Dauer, zumal der Film sich eindeutigen Kategorien entzieht und vieles zugleich sein will: Coming-of-Age, Drama der Leidenschaften, Reflexion über Schönheit und Hymnus auf eine Idealfigur. Ob dieser Mix gefällt, ist letztlich Geschmackssache.
Dazu zählt auch eine ungewöhnliche Klanggestaltung. Immer wieder werden sowohl Musik als auch Dialoge und Alltagsgeräusche durch Filtereffekte verfremdet. Manchmal erscheinen sie ganz nah, dann wieder sehr weit weg. Zuweilen ist Musik nur als Brummen im Hintergrund zu hören; manchmal rauscht sie heran wie eine Welle, nur um plötzlich zu verstummen.
Akustischer Raum spiegelt Innenwelt
Diese Klangereignisse vermitteln Parthenopes Weltwahrnehmung nicht durch Dialoge, sondern über akustische Distanzverhältnisse. Nähe und Fremdheit, Intimität und Entfremdung werden so hörbar gemacht. Eine Frau, die ständig fremden Blicken ausgesetzt ist, hört jedoch genauer hin als andere. Eindrucksvoll etwa, als Parthenope allein am Meer steht: Der Klang zieht sich zurück, ihre Gedanken werden in Schall übersetzt. Der akustische Raum wird zum Spiegel ihrer inneren Welt.