
Hoch die Tassen: Dass Mafia-Filme mit einem großen Fest beginnen, ist fast schon eine Genre-Konvention – fröhliche Ausgelassenheit lässt den folgenden Absturz in Intrigen und Gewalt umso schmerzlicher spürbar werden. Auch Regisseur Jonas Carpignano nutzt diesen Kunstgriff. Allerdings auf eigentümliche Weise: Er walzt die Feier zum 18. Geburtstag von Chiaras Schwester Giulia (Grecia Rotolo) so naturalistisch aus, mit Glitzer und Gimmicks, Tanz- und Trinkspielen, dass sich der Zuschauer bald fragt, wozu er das alles sehen soll.
Info
Chiara
Regie: Jonas Carpignano,
122 Min., Frankreich/ Italien 2021;
mit: Swamy Rotolo, Claudio Rotolo, Pio Amato, Grecia Rotolo
Weitere Informationen zum Film
Familien-Mauer des Schweigens
Nun will Chiara (Swamy Rotolo) wissen, was dahinter steckt. Doch sie stößt auf eine Mauer des Schweigens – in der eigenen Familie. Ihre Mutter, Schwester Giulia und alle anderen in der weit verzweigten Verwandtschaft wiegeln ab, beschönigen oder herrschen sie schlicht an, den Mund zu halten. Die frühreife 15-Jährige geht weiter auf eigene Faust der Sache nach – und findet im Wohnzimmer den Eingang zu einem unterirdischen Bunker-Versteck. Samt Handy, mit dem sie über Claudios rechte Hand Antonio ihren Vater aufspüren wird.
Offizieller Filmtrailer OmU
Kokain-Einfallstor Gioia Tauro
Chiaras Suche legt Regisseur Carpignano gleichsam als klassischen Krimi an. Er beginnt gemächlich als Milieu-Schilderung, mit eher redundanten Szenen und Wortwechseln, um bald Fahrt und Spannung aufzunehmen. Ort der Handlung ist Gioia Tauro: Der kalabrische Küstenort mit 20.000 Einwohnern hat den größten Containerhafen Italiens. In dem Kalabriens Mafia kräftig mitmischt: Die ’Ndrangheta nutzt ihn für Giftmüll-, Waffen- und Drogenhandel – 80 Prozent des Kokains aus Kolumbien sollen über diesen Hafen nach Europa gelangen.
In Gioia Tauro spielten bereits auch die beiden letzten Filme von Carpignano. „Mediterranea“ (2015) porträtierte afrikanische Flüchtlinge, die in Süditaliens Obst- und Gemüseplantagen ausgebeutet werden. „A Ciambra“ (2017) beleuchtete heruntergekommene Sozialwohnungsbauten am Stadtrand, in denen arme Roma-Familien hausen. „Chiara“ ist quasi Fortsetzung und Abschluss der Kleinstadt-Trilogie; manche Orte und Personen tauchen erneut auf, die schon in den Vorgänger-Filmen vorkamen.
Unklare Reichweite des Mafia-Einflusses
Damit will der Regisseur nach eigenen Worten die Ursachen der dortigen Verhältnisse dingfest machen: Die ’Ndrangheta hat sie offenbar im Griff. Doch man sieht es nicht; im Alltag geht alles seinen gewöhnlichen Gang. Wie weit der Mafia-Einfluss reicht, bleibt für das Publikum genauso unklar wie für die Protagonistin.
Das macht eine Szene sehr anschaulich. Chiara fährt mit Antonio in dessen Kleinwagen; im Kofferraum transportieren sie ihren Vater. Sie geraten in eine scharfe Polizeikontrolle, doch die Carabinieri lassen sich von Antonio nur die Papiere zeigen, aber nicht den Kofferraum. Weil sie korrupt sind und die Razzia ein abgekartetes Spiel ist, weil Auto und Insassen harmlos wirken oder aus reiner Nachlässigkeit?
Zwangsadoption als Freiheitsversprechen
Diese Ambiguität sorgt auch für die überraschendste Wendung des Films: Chiara wird der Schule verwiesen. Sie soll ihren Verwandten weg- und von einer Adoptivfamilie im mittelitalienischen Urbino aufgenommen werden. Das erscheint wie ein kaum kaschierter Mafia-Schachzug, um die lästige Schnüfflerin aus dem Verkehr zu ziehen. Doch nein: Mit diesem Verfahren gehen die Behörden systematisch gegen die ’Ndrangheta vor.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mediterranea" – authentisches Flüchtlings-Drama in Süditalien von Jonas Carpignano
und hier eine Besprechung des Films "Il Traditore –Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" - grandioses Anti-Mafia-Epos von Marco Bellocchio.
und hier einen Beitrag über den Film "Paranza – Der Clan der Kinder" – fesselndes Dokudrama über Teenie-Mafiosi in Neapel von Claudio Giovannesi
und hier einen Bericht über den Film "Das Land der Heiligen – La Terra dei Santi" – origineller Film über die italienische Mafia aus Frauensicht von Fernando Muraca.
Coming-of-Age als Zumutung
Zu einem fast unmenschlich hohen Preis: dem Abbruch aller bisherigen sozialen Beziehungen. Auch Chiara ringt und hadert lange mit sich, was Hauptdarstellerin Swamy Rotolo eindrucksvoll verkörpert. Dass sie mit ihrer Film-Familie im realen Leben tatsächlich verwandt ist, trägt zur Authentizität ebenso bei wie die nervöse Handkamera, die ihre vorwitzig entschlossene, aber unsicher tastende Orientierungslosigkeit begleitet.
So ist „Chiara“ weniger ein Mafia-Film als vielmehr eine Coming-of-Age-Story: über die Zumutung, sich aus unhaltbaren Zuständen lösen zu müssen, obwohl alle Nahestehenden einen darin gefangen halten wollen. Die ersten Opfer der organisierten Kriminellen sind deren Angehörige. Und dennoch: Am Ende kann Chiara ihre Volljährigkeit feiern, wie sie es will.
Ab 26. August bei MUBI.