
Eine Gruppe von Leuten um die 40 sitzt in der schmucklosen Wohnung eines Frankfurter Hochhauses und trinkt Sekt. Es läuft der Nachkriegs-Schlager „Eine Liebe so wie Du“ von Heidi Brühl. Die Stimmung auf der Party von Leni (Thea Ehre) und Robert (Timocin Ziegler) – sie feiern, dass sie als Paar zusammenziehen – ist bestens. Dann fragt ihre Nachbarin Nicole, wie sie sich eigentlich kennengelernt haben. In einem Restaurant namens „Le Petit“ in Hannover, antwortet Leni. Robert fährt ihr ins Wort und korrigiert: „Es war eigentlich in Hamburg und hieß „Canetti“. Er blickt mürrisch ins Leere; ein kurzes, peinliches Schweigen füllt den Raum.
Info
Bis ans Ende der Nacht
Regie: Christoph Hochhäusler,
123 Min., Deutschland 2023;
mit: Thea Ehre, Timocin Ziegler, Michael Sideris, Ioana Iacob
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Im Tanzkurs Kontakt aufnehmen
Das funktioniert zunächst gut. Leni und Robert belegen einen Tanzkurs, an dem auch Arth mit seiner Frau teilnimmt, und kommen ihm so näher. Arth ist Betreiber eines Clubs, in dem Leni einst als Tontechniker arbeitete; zugleich dealt er im großen Stil mit Drogen. Während sich Leni, der eine vorzeitige Haftentlassung versprochen wurde, trotz ihres Patzers auf der Party schnell an ihre Rolle gewöhnt, fällt es Robert schwer, gemeinsam mit ihr zu ermitteln. Weniger aus Sorge, im drogenkriminellen Milieu aufzufliegen, als vielmehr aus persönlichen Gründen.
Offizieller Filmtrailer
Zwei Stunden lang Düsternis
Wie sich bald herausstellt, ist Robert schwul; er kannte und liebte Leni einst, als sie noch ein Mann war. Jetzt versucht er, seine Zuneigung zu ihr zu verstecken und zu unterdrücken. Einerseits, um seinen Ermittlungsauftrag nicht zu gefährden; andererseits schreckt er davor zurück, mit einer Frau intim zu werden. Dennoch entwickelt sich der Krimi nach einem ersten, wenn auch gescheiterten Annäherungsversuch bald zu einer Romanze – die jedoch jeglichen Kitsch vermissen lässt.
Das dürfte zum einen am Sujet liegen: Es gibt es kaum Vorbilder für Liebesgeschichten zwischen Homo- und Transsexuellen, die ein Arsenal an Klischees bereitstellen, wie sie bei Hetero-Beziehungen üblich sind. Zum anderen schafft Regisseur Hochhäusler – der in den Nuller Jahren als Vertreter der sperrigen Berliner Schule galt, sich aber 2015 mit dem Polit-Thriller „Die Lügen der Sieger“ einem eher populären Genre zuwandte – eine eigenwillige Ästhetik. „Bis ans Ende der Nacht“ changiert zwischen 1980er-Jahre-Tatort und einer Überdosis Film noir: Während der Plot immer verworrener und undurchsichtiger wird, bleibt die visuelle Ebene zwei Stunden lang durchgehend düster.
Verwischte Grenzen
Ob auf der Straße, dem Polizeirevier, in Hinterhöfen oder in der gemeinsamen Wohnung: Immer wieder sind Leni und Robert nur als schemenhafte Wesen zu sehen. Manchmal wirken ihre Körper wie verschwommene Silhouetten auf einem impressionistischen Gemälde. Dabei fungieren Nachtansichten als Leitmotive, die allerlei Symbolisches evozieren. Zum Beispiel verwischen im Verlauf des Filmes die Grenzen zwischen Innen und Außen immer mehr.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Lügen der Sieger" – prägnanter Polit-Thriller über Medien-Manipulation von Christoph Hochhäusler
und hier eine Besprechung des Films "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne" – ergreifendes Melodram über eine Drogendealer-Geliebte von Katell Quillévéré.
und hier einen Bericht über den Film "Die dunkle Seite des Mondes" – Psychothriller über Drogentrip von Stephan Rick mit Moritz Bleibtreu.
Kamera wie lauerndes Tier
Für diese Ambivalenz sorgt die großartige Interaktion zwischen Timocin Ziegler und Thea Ehre, die dafür auf der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Nebenrolle erhielt. Aber auch technische Kniffs tragen dazu bei: etwa gelegentliche Ton-Bild-Scheren, wenn eine Szene mit Tanzenden im Club von alter Schlagermusik untermalt wird. Oder eine dynamische Kamera die Protagonisten mal verfolgt wie ein lauerndes Tier, mal sie auf Hüfthöhe umkreist oder – insbesondere bei Gewaltszenen – auf Distanz geht, als sei sie ein Detektiv, der beschattet.
So gelingt Regisseur Hochhäusler mit komplexem Plot, souveränem Schnitt und atmosphärisch beeindruckenden Bildern eine spannende Reflexion über Liebe, Manipulation, Gender-Problematik, Kriminalität und vor allem: zwischenmenschliches Vertrauen. Wobei er mit angenehm wenig Kunstblut auskommt.