Sandra Hüller

Anatomie eines Falls

Samuel (Samuel Theis) wird von seiner Frau Sandra (Sandra Hüller) und dem gemeinsamen Sohn Daniel (Milo Machado Graner), tot aufgefunden. Foto: © LesFilmsPelleas LesFilmsDePierre
(Kinostart: 3.11.) Im Falle eines Falles: Ein tödlicher Sturz entwickelt sich zum wendungsreichen Prozessdrama. Das Szenario eines Krimi-Klassikers von 1959 adaptiert Regisseurin Justine Triet für die Analyse einer Beziehung; die Rolle der Angeklagten ist Sandra Hüller wie auf den Leib geschrieben.

Die erfolgreiche Autorin Sandra (Sandra Hüller) lebt mit ihrem Ehemann Samuel (Samuel Theis) und dem gemeinsamen elfjährigen Sohn Daniel (Milo Machado Graner) zurückgezogen in einem Chalet in den französischen Alpen. Eines Tages wird sie von einer Studentin besucht, die ein Interview mit ihr führen möchte. Doch die hat sich den falschen Tag ausgesucht. Das Gespräch der beiden Frauen kommt nicht recht in Gang, Sandra wirkt gelangweilt. Und von oben, wo Samuel am Ausbau des Hauses arbeitet, dröhnt laute Musik, welche die Besucherin schließlich aus dem Haus treibt.

 

Info

 

Anatomie eines Falls

 

Regie: Justine Triet,

150 Min., Frankreich 2023;

mit: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis

 

Weitere Informationen zum Film

 

Auch Daniel flieht mit seinem Hund Snoop nach draußen. Als er vom Spaziergang zurückkommt, findet er seinen Vater tot im eigenen Blut vor dem Haus liegen. Da nicht klar ist, ob es sich um einen Unfall, einen Selbstmord oder gar um Mord handelt, nimmt die Polizei Ermittlungen auf. Noch bevor Sandra und Daniel die Geschehnisse irgendwie verarbeiten können, werden sie befragt. Mithilfe einer Puppe soll der Fall von Samuels Körper aus der Höhe des Dachgeschosses rekonstruiert werden.

 

Variation eines Klassikers

 

Allerdings ist Justine Triets Film „Anatomie eines Falls“, der in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme gewann, nicht nur am freien Fall eines Körpers interessiert. Die Regisseurin bezieht sich ebenso auf den Gerichtsfilm-Klassiker „Anatomie eines Mordes“ (1959) von Otto Preminger; etwa zwei Drittel des Films spielen vor Gericht. In der Verhandlung, die ein Jahr nach Samuels Tod eröffnet wird, versucht die Staatsanwaltschaft Sandra nachzuweisen, dass sie ihren Mann getötet hat, während sie selbst und ihr Verteidiger Vincent (Swann Arlaud) auf „nicht schuldig“ plädieren.

Offizieller Filmtrailer


 

Höhen und Tiefen einer Beziehung

 

Dennoch geht es Triet nicht in erster Linie um die Spannung, die aus der Aufklärung der Tatsachen und der Frage nach der vermeintlichen Täterschaft entsteht. In ihrer Filmerzählung beginnt der finale Absturz schon viel früher, nämlich auf der Höhe des einstigen Glücks eines Schriftsteller-Paares, das sich beim Auf und Ab seiner Beziehung emotional zusehends voneinander entfernt hat.

 

Mit jeder neuen Erinnerung an Vergangenes im Prozess weitet sich der Film so zum Ehe- und Familiendrama und geht der Frage nach, wie sich Kreativität und gemeinsames Leben miteinander vereinbaren lassen. Wer muss für die Anforderungen, die Familie und Zusammenleben stellen, die eigene Entfaltung einschränken? Wie weit dürfen geteilte Erfahrungen in die künstlerische Arbeit eingebaut oder gar zu ihrer Grundlage gemacht werden?

 

Zwei gegensätzliche Gutachten

 

Schnell zeigt sich, dass Sandras anfängliches Vertrauen trügt, der Fall werde sich schnell und praktisch von selbst in ihrem Sinne klären. Dass  zwei verschiedene Sachverständigen zu Beginn der Verhandlung Samuels Sturz diametral gegensätzliche analysieren, ist noch die geringste Herausforderung für Gericht und Publikum. Denn immer wieder tauchen Indizien auf, die ein ganz neues Licht auf das Zusammenleben des Paars werfen.

 

Doch je mehr Sandra dazu befragt wird, desto abhängiger erweist sich jede neue Lesart von subjektiven Interpretationen. So geht Triets Film über seinen Kriminalfilmplot auch insofern hinaus, als dass er zeigt, wie fragil das Konzept von Wahrheit nicht nur in Zeiten von Fake News und MeToo-Debatten, sondern seinem Wesen nach ist.

 

Daniels Verzweiflung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Saint Omer" – französisches Gerichtsdrama über Mutter, die ihr Kind ermordete, von Alice Diop

 

und hier eine Besprechung des Films "Gone Girl - Das perfekte Opfer" – virtuoser Thriller über Mord an Ehefrau mit Ben Affleck von David Fincher

 

und hier einen Bericht über den Film "Das blaue Zimmer" – verschachtelter Krimi über Affären-Mord nach Roman von Georges Simenon von und mit Mathieu Amalric

 

und hier einen Beitrag über den Film "Schlaf" – abgründiger Horror-Heimatfilm von Michael Venus mit Sandra Hüller.

 

Mit den Fragen, wieso sein Vater sterben musste und ob seine Mutter vielleicht die Mörderin ist, muss sich auch Daniel befassen. Der seit einem frühkindlichen Unfall sehbehinderte Junge rückt im Laufe des Films immer mehr ins Zentrum. Er wohnt dem gesamten Prozess bei, wird mehrmals als Zeuge befragt und verwehrt sich in einem flammenden Plädoyer dagegen, dass die Richterin ihn gegen Ende zu seinem eigenen Schutz ausschließen will.

 

Wie das Publikum kann auch Daniel nicht wirklich sicher sein, was zwischen seinen Eltern und was am Todestag des Vaters geschehen ist. Unter seiner eigenen Suche nach Erklärungen hat in einem absurden Experiment ausgerechnet sein geliebter Snoop zu leiden, der ihm eigentlich Halt und Orientierung bietet.

 

Frau mit vielen Gesichtern

 

Die Rolle der Sandra, die anfangs glaubt, alles unter Kontrolle zu haben, und erst allmählich versteht, dass sich die Umstände gegen sie wenden, ist Sandra Hüller auf den Leib geschrieben. Ihr gelingt es, die Figur glaubhaft vielschichtig zu gestalten. Mal erscheint sie überheblich und selbstbezogen, dann wieder möchte sie auf keinen Fall, dass ein schlechtes Licht auf ihren toten Ehemann fällt – selbst wenn ihr das im Verfahren durchaus helfen würde.

 

Sowohl die Fürsorge für Daniel als auch eine aufrichtige, wenngleich widersprüchliche Haltung prägen diesen Charakter. Dennoch bleibt immer ein Rest von Unsicherheit, wozu diese Frau mit den vielen Gesichtern imstande sein könnte. Bis zum Schluss hält der Film die Antworten auf solche Fragen in der Schwebe. Sein Urteil lautet, dass die Wahrheit immer auch in den Bedürfnissen der nach ihr Suchenden liegt. Das macht ihn zu einem Erlebnis, das nach den zweieinhalb Stunden im Kinosaal noch lange weiterwirkt.