Manchmal sagt ein Preis mehr als tausend Worte. Bei der Berlinale wurde „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ mit zwei Silbernen Bären prämiert, darunter dem für die beste Hauptrolle. Er ging an die deutschtürkische Comedienne Meltem Kaptan für ihre Verkörperung der Rabiye Kurnaz, Mutter des unschuldigen Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz.
Info
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
Regie: Andreas Dresen,
100 Min., Deutschland/ Frankreich 2022;
mit: Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Charly Hübner
Für 3000 Dollar an US-Armee verkauft
Der Fall von Murnat Kurnaz ist der wohl schwerwiegendste deutsch-amerikanische Justizskandal. Im Dezember 2001 wird der 19-jährige gebürtige Bremer, türkischer Staatsbürger mit deutschem Aufenthaltsrecht, in Pakistan festgenommen und für 3000 Dollar Kopfgeld an US-Streitkräfte in Afghanistan übergeben. Die halten ihn für einen Taliban-Terroristen und verfrachten ihn ins Gefangenenlager Guantánamo. Wie Hunderte anderer Insassen wird er dort unrechtmäßig interniert – ohne Verfahren, Rechtsbeistand oder irgendeine Möglichkeit, dagegen vorzugehen.
Offizieller Filmtrailer
Alle bekochen + Dönekens erzählen
Im August 2006 wird Kurnaz endlich freigelassen. Über seine Haftzeit schreibt er das Buch „Fünf Jahre meines Lebens“, das 2012 verfilmt wird. Darin zeigt Regisseur Stefan Schaller verstörend nüchtern den Alltag seines Protagonisten in Guantánamo; inklusive Isolationshaft und Folter bei Verhören. Seine Leidensgeschichte war also schon vor zehn Jahren im Kino zu sehen. Regisseur Andreas Dresen plante ebenfalls eine Verfilmung, kam aber nach eigenen Worten damit nicht zurande: „Alle Entwürfe verloren sich in trostloser Ausweglosigkeit.“
Daher wechselt Dresen die Perspektive und macht aus dem Gefangenen- ein menschelndes Angehörigen-Drama. Mit der liebenden Mama, die für die Freilassung ihres Erstgeborenen alles täte, im Mittelpunkt: Nonstop darf Kaptan kalauern, alle Akteure üppig bekochen, deutschtürkische Dönekens erzählen – und in Tränen ausbrechen, wenn sie vom Schicksal ihres Sohnes berichtet. An solchen zu Herzen gehenden Szenen mangelt es nicht.
Kanzleramt verweigert Kurnaz-Aufnahme
Ansonsten geschieht nicht viel, außer Fahrten von einem Gerichtstermin oder einer Pressekonferenz zur nächsten. Alexander Scheer als trocken korrekter Anwalt Bernhard Docke erklärt seiner Mandantin zwar geduldig jeden Schritt auf ihrem langen Marsch durch die Instanzen, um Murat freizubekommen. Doch sie interessieren Rabiye Kurnaz ebenso wenig wie offenbar Regisseur Dresen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Bilanz der 72. Berlinale 2022 mit zwei Silbernen Bären für Skript und Hauptdarstellerin von "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush"
und hier eine Rezension des Films "Gundermann" – gelungen facettenreiches Biopic über den DDR-Liedermacher von Andreas Dresen
und hier eine Besprechung des Films "Als wir träumten" – stilsicheres Gruppenporträt Leipziger Teenager in der Nachwendezeit von Andreas Dresen
und hier einen Beitrag über die Doku "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" über den Arbeitsalltag eines MdL-Politikers von Andreas Dresen
und hier einen Bericht über den Film "Halt auf freier Strecke" – ergreifendes Porträt eines Krebskranken von Andreas Dresen.
Fixierung auf feelgood-Faktoren
Doch dieser Film belässt es bei Andeutungen und verfolgt die politische Fährte nicht weiter. Das verwundert bei einem Regisseur wie Andreas Dresen. Er hat mit „Herr Wichmann von der CDU“ (2003) und „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ (2012) zwei Dokus gedreht, die wunderbar anschaulich zeigen, wie Demokratie im Alltag funktioniert: am Beispiel eines hyperaktiven Landtagsabgeordneten, an dessen Fersen sich Dresens Team heftet.
Aber im neuen Film folgt der Regisseur vor allem seinem Faible für Milieubeobachtung bei kleinen Leuten: „Eine türkische Hausfrau aus Deutschland kann Steine zum Tanzen bringen.“ Diese Fixierung auf feelgood-Faktoren passt zum Zeitgeist: Während Institutionen und Entwicklungen immer komplexer werden, dampfen die Massenmedien sie auf rasch konsumierbare human-interest-Reportagen ein.
Silberner Bär für Skript
Allzumenschliches ist leichter verdaulich als Abstraktionen – und David-gegen-Goliath-Fabeln versteht jeder. Derartige Entpolitisierung der Affäre fand auch die Berlinale-Jury preiswürdig: Den zweiten Silbernen Bären erhielt Drehbuchautorin Laila Stieler für das beste Skript.