Wham, bam, thank you, man! So einen fantasievoll furiosen Auftakt sieht man selten im Kino: Wanja (Lia von Blarer) und ihre vier Freunde, die in einer alten Scheune hausen, toben wie die Irren über eine Wiese. Sie sind quietschbunt kostümiert und geschminkt; irgendwas zwischen Neo-Hippie, Punk und Tekknozid. Dann bricht die wilde Horde in eine Erdgeschoss-Wohnung ein, schüttet sich Sprit rein, schnüffelt Klebstoff, grölt und randaliert, indem sie die Einrichtung zerlegt – bis der verstörte Bewohner auftaucht.
Info
Youth Topia
Regie: Dennis Stormer,
85 Min., Schweiz/ Deutschland;
mit: Lia von Blarer, Timon Kiefer, Nicolas Rosat
Weitere Informationen zum Film
Alles hängt von Social-Media-Postings ab
Es bildet die Ausgangsidee von „Youth Topia“: Die starre Altersgrenze von 18 Jahren beim Erreichen der Volljährigkeit ist abgelöst worden durch ein flexibles, KI-gesteuertes System. Aus Social-Media-Postings berechnen Algorithmen in Echtzeit den Reifegrad und das Potential jedes Heranwachsenden – ist beides vielversprechend, wird er oder sie zum Erwachsenen mit allen Rechten und Pflichten befördert. Umgekehrt können Erwachsene, die damit verantwortungslos umgehen, wieder zu Jugendlichen degradiert werden; mit ihren Pflichten verlieren sie auch ihre Privilegien.
Offizieller Filmtrailer
Aus lachendem Nichtsnutz wird Miesepeter
Ersteres widerfährt Wanja nach einer Viertelstunde: Zwei freundliche Bürokraten bieten ihr einen Assistenten-Job in einem Architekturbüro an, den sie zunächst widerstrebend annimmt. Dagegen greift sie bei den Statussymbolen, die nun für sie verfügbar sind, sofort wollüstig zu: Sie kauft einen Sportwagen, mietet ein minimalistisches Sichtbeton-Apartment und legt beim Einzug gleich ihren Büro-Kollegen Lukas (Timon Kiefer) flach. Als Langzeitjugendliche, die sie vorher war, hatte sie seltsamerweise keine Libido – Sex ist Erwachsenen vorbehalten.
All diese ungeahnten Freuden müssten Wanja aufblühen lassen. Nichts da: Aus dem schnoddrig selbstbewussten Null-Bock-Nichtsnutz mit herrlich dreckiger Lache wird im Nu ein mürrischer Tropf, als wäre sie gehirngewaschen. Obwohl alles blendend für sie läuft: Lukas erweist sich als liebevoller Lover, im Büro wird sie als Newcomerin nachsichtig behandelt. Die Chef-Architektin betraut sie sogar mit dem Großprojekt, für ihre Ex-Kumpels anstelle der Scheune ein „Haus der ewigen Jugend“ zu planen. Doch Wanja schaut so miesepetrig drein wie drei Tage Regenwetter.
Skript + Regie denunzieren Protagonisten
Hintergrund
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Was als originelles Gedankenspiel auf avancierter IT-Basis beginnt, mutiert zum zähen Fernsehspiel, dessen Akteure nach lastendem Schweigen bedeutungsschwangere Banalitäten aufsagen. Zwar passiert noch einiges: Wanja rechnet mit ihren Eltern ab, steckt Jochen ins Jugendheim, wird schwanger und treibt gleich wieder ab. Doch offensichtlich füllen Stormer und Meier nur auf, weil ihnen zum Grundkonflikt Digital-Infantilisierung versus Konsum-Karrierismus nichts mehr einfällt – außer ein paar Spitzen gegen rundumbetreuende Sozialfürsorge, die Bevormundung perpetuiert.
Regression zur Teenie-Gang
Da ist es nur konsequent, dass der Film in seiner Schlussszene zum anarchischen Anfang zurückkehrt. Oder eher: regrediert, denn die beschworene Gemeinschaft ist so simpel gestrickt wie eine Teenie-Gang. Die Reifeprüfung für Digital-Dystopien besteht „Youth Topia“ allerdings nicht.