Alexander Kluge

Abschied von gestern (WA)

Anita (Alexandra Kluge) und Ministerialrat Pichota (Günter Mack) haben eine Affäre. Foto: © Kairos-Film
(Kinostart: 19.10.) Außer Atem für die frühe Bundesrepublik: 1966 porträtierte Regisseur Alexander Kluge mit verwegenen Stilmitteln eine Kleinkriminelle, gespielt von seiner Schwester – das wurde zum Überraschungserfolg. Diese kühne Pioniertat des Neuen Deutschen Films kommt nun restauriert wieder ins Kino.

Anita G. rennt. Ständig eilt, läuft oder trippelt sie von hier nach dort. Und wenn sie einmal unbewegt irgendwo sitzt und raucht, wandern ihre Augen häufig unstet hin und her. Dass Anita so unruhig auftritt, liegt nicht nur daran, dass sie als vorbestrafte Diebin und Wiederholungstäterin vor Polizei und Justiz fliehen muss. Sondern auch an Orientierungslosigkeit: Sie weiß nicht, wie es mit ihr weiter gehen soll. Sie hangelt sich von einem Tag zum nächsten – ohne Ziel.

 

Info

 

Abschied von gestern (WA)

 

Regie: Alexander Kluge,

88 Min., Deutschland 1966;

mit: Alexandra Kluge, Hans Korte, Werner Kreindl

 

Weitere Informationen zum Film

 

Ihr rastloses Umherschweifen beobachtet der Film ebenso mäandernd. Oder eher: kaleidoskopartig. Manche Szenen folgen logisch aufeinander, andere sind hart gegeneinander geschnitten. Man mag kaum von Brüchen reden, so wenig haben sie miteinander zu tun. Der Ablauf ist vage chronologisch, doch der Erzählfluss wird oft durch Einschübe aller Art unterbrochen. Dennoch entfaltet dieses Trommelfeuer disparater Ideen und Stilmittel immer noch einen faszinierenden Sog.

 

Progressive BRD-Kultur-Elite

 

Den authentischen Justizfall der Anita G. von 1959 hatte Regisseur Alexander Kluge bereits drei Jahre darauf in seinem literarischen Debüt „Lebensläufe“ aufgegriffen. 1966 adaptierte er ihn für seinen ersten Spielfilm; die Hauptrolle besetzte er mit seiner Schwester Alexandra Karen Kluge (1937-2017). Einerseits kannte sich der promovierte Jurist mit Strafverfolgung und -vollzug bestens aus. Andererseits zählte der damals 34-Jährige längst zur progressiven Kultur-Elite der jungen Bundesrepublik; er bewegte sich unter Autoren der Gruppe 47, Vordenkern der Kritischen Theorie und jungen Filmemachern, die 1962 im „Oberhausener Manifest“ Opas Kino zu Grabe trugen.

Ausschnitt aus dem Film


 

Mehr unbewältigte Vergangenheit geht kaum

 

Das merkt man diesem Film in jeder Sekunde an. Er erscheint gleichsam als Quintessenz dessen, was intellektuell im Schwange war – zugespitzt durch Kluges Laster, jedem Augenblickseinfall nachzugeben. Diese Bezüge zum geistigen Klima der Epoche, wie man damals gesagt hätte, beginnen schon mit dem kontrafaktischen Titel: Es gibt keinen „Abschied von gestern“. Weder für Anita, die dauernd von den Folgen ihrer Fehltritte eingeholt wird, noch für die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt.

 

Denn die junge Frau ist Jüdin, im selben Jahr wie die Hauptdarstellerin geboren, mit ihren Eltern emigriert, nach Kriegsende in die DDR zurückgekehrt, dort aufgewachsen und als Telefonistin tätig. Dann flieht sie in den Westen, arbeitet als Krankenschwester, wird aber in flashbacks von Fotos und Gräuelbildern aus der NS-Zeit heimgesucht, die sie ängstigen. Mehr unbewältigte Vergangenheit geht kaum.

 

Stummfilm-Zwischentitel + Standbild-Gesichter

 

Deshalb leuchtet zu Beginn der Schrifttitel auf: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.“ Wie bei einem Stummfilm fügt Kluge mehrfach Zwischentitel mit Kommentaren ein; manche informativ, andere ironisch. Sie schaffen ebenso Abstand zum Geschehen wie die Spielweise der Akteure: nüchtern, kühl, zuweilen scheinbar desinteressiert. Ihr distanziertes Auftreten sollte Prinzipien des Epischen Theaters von Bertolt Brecht aufgreifen, sieht aber streckenweise eher bemüht bis dilettantisch aus.

 

Macht nichts: Das gleicht der Regisseur mit einem Feuerwerk von Einfällen aus. Wie die Pioniere der Nouvelle Vague dreht er mit Handkamera an realen Schauplätzen; kleinkriminelles Sujet, Großstadt-Kulissen und hektisches Tempo erinnern an „Außer Atem“ (1960). Doch anders als Jean-Luc Godard löst Kluge die herkömmliche Film-Kontinuität viel stärker auf. Zwischen gewöhnlichen Spielszenen tauchen bizarre Einsprengsel auf; angefangen mit eingefrorenen Standbildern der Person, die gerade spricht.

 

Experimentierfreude + konventioneller Plot

 

Manche Momente wirken wie surreale Wahnvorstellungen: etwa ein Heer historischer Soldatenpuppen, was in eine groteske Verfolgungsjagd übergeht. Andere wie zwingende Symbole: So veranschaulicht Kluge Isolation und Verwirrung seiner Heldin, indem er sie am Rand einer Schnellstraße aussetzt und aus vorbeirasenden Autos aufnimmt. Reißschwenks, Jump Cuts und allerlei mehr: Das Innovations-Stakkato ähnelt dem von Pier Paolo Pasolini, der zeitgleich auch unentwegt Neues ausprobierte.

 

Zugleich kaschiert diese Experimentierfreude, wie konventionell die Handlung eigentlich ist: Ein gefallenes Mädchen gerät auf die schiefe Bahn und findet keinen Halt. Aufgrund eines Bagatelldelikts wird Anita zu Haft verurteilt und auf Bewährung entlassen: sie mogelt sich durch und fliegt wegen Geldnot aus Hotels oder Pensionen hinaus. Ein Job als Zimmermädchen behagt ihr nicht; den als Schallplatten-Vertreterin verliert sie, weil sie mit ihrem Chef anbändelt, was dessen Frau wittert. Für ein Studium – bei blasiert-abgehobenen Professoren – fehlt ihr die Zulassung.

 

Mit Silbernem Löwen prämiert

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellungen "Alexander Kluge: Pluriversum + Gärten der Kooperation" – Retrospektiven zum 85. Geburtstag des Filmemachers in Essen, Wien + Stuttgart

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – gelungenes Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume

 

und hier einen Bericht über den Film "Baal" – Adaption des Dramas von Bertolt Brecht als früher Geniestreich des Neuen Deutschen Films von Volker Schlöndorff mit Rainer Werner Fassbinder

 

und hier einen Beitrag über den Film "La Dolce Vita – Das süße Leben" – Wiederaufführung der digital restaurierten Version des Sittenbild-Klassikers von Federico Fellini mit Marcello Mastroianni.

 

Am aussichtsreichsten scheint ihre Affäre mit Ministerialrat Pichota (Günter Mack). Aber auch für ihn ist sie nur eine heimliche Geliebte, die er schwängert und mit Taschengeld abfertigt. Demoralisiert und obdachlos stellt sie sich der Polizei und geht zurück ins Gefängnis. Begleitet von sarkastischer Sozialkritik: Es mangelt nicht an Therapeuten und sonstigen Salbadern, die Anita mit wohlfeilen Ratschlägen eindecken. Doch konkrete Hilfe bietet keiner – nicht einmal der für sein Engagement berühmte Staatsanwalt Fritz Bauer, der 1957 den NS-Verbrecher Adolf Eichmann aufgespürt hatte. Kluge lässt ihn im Film sich selbst spielen.

 

Nicht wegen seines Inhalts, sondern dank seiner verwegenen Machart wurde „Abschied von gestern“ zum Überraschungserfolg. Beim Festival in Venedig 1966 erhielt der Film den Silbernen Löwen – nachdem Kluge ihn auf eigene Faust dem Auswahlkomitee vorgestellt hatte, weil die deutsche Kulturbürokratie ihn nicht offiziell als Beitrag einreichen wollte. Seine Schwester wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet – zog es aber in den Folgejahren vor, eine Laufbahn als Ärztin einzuschlagen.

 

Gesamtwerk in Debüt angelegt

 

Dagegen wurde Alexander Kluge zum selbst ernannten Theoretiker des Neuen Deutschen Films und multimedialen Tausendsassa mit längst unüberschaubarem output in Schrift, Kino und Fernsehen. Wobei sämtliche Werke sein Markenzeichen tragen: eine unbändige Assoziationswut, die alles mit allem verknüpft, ohne sich um Plausibilität zu scheren. Damit hat er im Grunde nur ein halbes Jahrhundert lang entfaltet, was in seinem Spielfilmdebüt schon angelegt war.