
Um das Jahr 1900 herum fängt auf einem Alpenhof in Osttirol für den achtjährigen Andreas Egger (Ivan Gustafik) alles an. Was davor war, ist ungewiss. Von jetzt an jedenfalls soll er bei seinem Onkel Hubert Kranzstöcker (Andreas Lust) unterkommen, obwohl der den Buben gar nicht haben will. Dass der strenge Bauer sich schließlich doch erweichen lässt, muss der Junge beinahe jeden Tag mit Prügel und Verachtung bezahlen. Doch der kleine Egger ist zäh. Schluchzend kassiert er die Schläge ein, ohne zu schreien.
Info
Ein ganzes Leben
Regie: Hans Steinbichler,
115 Min., Österreich/ Deutschland 2023;
mit: Stefan Gorski, August Zirner, Robert Stadlober
Würdiger Hauptdarsteller
In seiner gleichnamigen Kino-Adaption markiert Regisseur Hans Steinbichler den Übergang seines Helden vom unerwünschten Kind zum adretten Jüngling, indem er fortan Stefan Gorski in der Hauptrolle besetzt. Eine kluge Wahl: Die Bedingungslosigkeit, mit der sich der österreichische Schauspieler seiner Figur und deren Schicksal annähert, verdient Aufmerksamkeit. Er gibt seinem Egger Persönlichkeit und Würde.
Offizieller Filmtrailer
Kurzes Glück und schweres Unglück
Als junger Mann schuftet Egger weiter und heuert schließlich beim Bau des ersten Ski-Lifts in der Gegend an. Viel Schönes ist einem wie ihm nicht vergönnt, und jedes Glück ist nur von kurzer Dauer; so wie die Liebe zu Marie (Julia Franz Richter), seiner warmherzigen Frau. Kaum ist sie schwanger, wird die hochgelegene Hütte, in der sie sich eingerichtet haben, von einer Lawine überrollt. Nur Egger kommt mit dem Leben davon – und ist wieder allein.
„Narben sind wie Jahre“, wird er später sagen, „da kommt eines zum anderen und alles zusammen macht erst einen Menschen aus“. Den weiteren Verlauf der Geschichte übernimmt Steinbichler von Seethalers Roman ohne merkliche inhaltliche Änderungen. Seine Inszenierung ist melancholisch und düster. Die Handlung ist schmal, doch auf sie kommt es hier nicht so sehr an.
Karge Bilder für raue Poesie
Der Regisseur, der sich bereits vor 20 Jahren mit seinem Leinwanddebüt „Hierankl“ am Genre des Heimatfilms versucht hat, folgt seiner Hauptfigur wie ein zuverlässiger, unsichtbarer Freund. Oft ist die Kamera sein einziger einsamer Begleiter. Wichtiger als jedes zwischenmenschliche Drama ist Steinbichler dabei die Beziehung seines Helden zu der Landschaft, in der er sich bewegt.
Die Berge, das Tal, die Sonne, der Schnee, all das bekommt bei ihm etwas Haptisches, das uns verbinden soll mit diesem Egger, mit seinem Wesen und seiner Welt. Die kargen Bilder, die der Regisseur dafür wählt, entsprechen bisweilen der rauen Poesie, die in Seethalers Vorlage aufscheint. Insofern lässt sich sagen, dass schon lange kein Regisseur mehr einen Bestseller so werktreu verfilmt hat.
Distanz zur Hauptfigur bleibt
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Märzengrund" über ein Leben in selbstgewählter Isolation auf der Alm von Adrian Goiginger
und hier eine Besprechung des Films "Der Verdingbub" – Dokudrama über Kinder als Arbeits-Sklaven in der Schweiz bis 1950 von Markus Imboden
und hier einen Beitrag über den Film "Der Trafikant" – solide Verfilmung des Romans von Robert Seethaler durch Nikolaus Leytner mit Bruno Ganz
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Alpenglühen: Die Berglandschaft als Sehnsuchtsort" in der Malerei des 19. Jh. im Schlossmuseum Murnau.
Oder es ist dem erneuten Wechsel in der Besetzung geschuldet: Als Greis wird Egger nicht mehr von Gorski, sondern von August Zirner gespielt. Zwar macht auch er seine Sache gut. Aber es dauert eine Weile, bis man sich an das neue Gesicht gewöhnt hat. Und so viel Zeit bleibt am Ende nicht mehr.
Finale mit großer letzter Kraft
Deshalb wirkt das letzte Kapitel in Eggers Leben etwas gerafft. Neue Menschen, die in den Alltag des Einsiedlers einbrechen, der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in seine alte Heimat zurückgekehrt ist, bleiben kaum mehr als Fußnoten. Doch Steinbichler hat dafür keinen Blick. Mit großer letzter Kraft steuert er seinen Film auf ein Finale zu, das die Geschichte zu einem würdigen Abschluss bringen soll.
Nur verliert er sich genau dabei im Pathos. Was bleibt, ist die Gewissheit, dass selbst das vermeintlich schlichteste Leben gewaltig sein kann. Seethaler hat es in seinem Buch mit einfachen Worten beschrieben. Und die Klarheit seiner Sprache prägt auch den Film in seinen stärksten Szenen. Steinbichlers Versuch einer Adaption ist gewagt – und verpasst sein Ziel nur knapp.